Essen & Trinken im Mittelalter: Die Sitte des Zutrinkens

Essen und Trinken dienten im Mittelalter nicht nur dem Zweck satt zu werden. Das gemeinsame Mahl hatte als gesellige Zusammenkunf...

Essen und Trinken dienten im Mittelalter nicht nur dem Zweck satt zu werden. Das gemeinsame Mahl hatte als gesellige Zusammenkunft auch eine soziale Funktion – vor allem in Adelskreisen. Die gemeinsame Tafel - das Gelage - verbindet die einzelnen Teilnehmer zu einer Gruppe und verstärkt gleichzeitig diese Gruppenzugehörigkeit jedes Mal von Neuem. Oft bilden sich im Rahmen dieser Gelage bestimmte Rituale, Sitten und Regeln heraus, die von den Teilnehmern beachtet werden müssen. Ich möchte heute ein solches Ritual aus dem Spätmittelalter vorstellen: Die Sitte des Zutrinkens.

Die Sitte des Zutrinkens: Der Zwang zum Trinken

Das Zutrinken ist eine rituelle Form des Alkoholkonsums von zwei Personen: Der eine beginnt, indem er auf das Wohl des anderen sein Getränk komplett leert. Der Angesprochene hat nun keine Wahl: Er muss seinen Becher ebenfalls in einem Zug leeren – denn das abzulehnen wäre eine schwere Beleidigung der anderen Person. Als „erzwungenes Mitsaufen“ (Ernst Schubert) lässt sich das Zutrinken wohl am besten bezeichnen. Am Ende des Mittelalters, um das Jahr 1500, erfreut sich das Ritual des Zutrinkens besonders unter Adeligen größter Beliebtheit: Auf dem Reichstag von 1521 sollen zum Beispiel 72 Adelige in nur einer Nacht 1200 fränkische Maß Wein getrunken haben – fast 17 Maß pro Kopf! Obwohl das Zutrinken als Freundschaftsritual im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit einen Höhepunkt erlebt, ist es zu dieser Zeit längst keine neue Erfindung mehr.

Trinkgelage im Mittelalter und die Sitte des Zutrinkens
Reichstag zu Worms, 1521: Martin Luther muss sich vor dem Kaiser für seine reformatorischen Thesen zur Kirche rechtfertigen. Wie nüchtern die Adeligen während der Verhandlung waren und ob der Reformator von der Sitte des Zutrinkens verschont blieb, ist nicht bekannt. (Kolorierter Holzschnitt, 1557, Abbildung: Wikimedia Commons).

Kritische Geistliche und trinkfeste Adelige

Für das frühe Mittelalter gibt es leider keine schriftlichen Quellen, die uns mehr über den Ablauf und die Verbreitung des Zwangs zum Mittrinken berichten. Doch weil Pfarrer und Mönche schon in der Zeit der Karolinger immer wieder Schriften verfassen, in denen sie dieses Ritual scharf kritisieren, muss es wohl schon damals einigermaßen bekannt gewesen sein. Um 1300 regt sich dann der Schriftsteller Hugo von Trimberg über Männerrunden auf, bei denen es Sitte ist, denjenigen zu trainieren, der nicht viel Alkohol verträgt: „Swer niht kann trinken, daz er ez lerne.“ „Giuz in“,also „gieß rein“, ist der Befehl dazu.
Der Humanist Aeneas Silvius Piccolomini (1405–1464) berichtet von sächsischen Studenten, die in hemmungslosen Trinkwettbewerben um das Ansehen ihrer Kommilitonen und Saufkumpanen kämpfen. Glaubt man Antonius Campanus, dann sind die Gelage der Adeligen auf dem Reichstag von 1471 vollkommen ausgeufert: „Hier gibt es kein anderes Leben als Trinken.“ Das Zutrinken wird in Adelskreisen an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert zur absoluten Lieblingsbeschäftigung.

Die Sitte des Zutrinkens und Trinkgelage im Mittelalter
Aeneas Silvius Piccolomini berichtet von Trinkgelagen und der Sitte des Zutrinkens unter sächsischen Studenten. Die Abbildung zeigt Aeneas nach seiner Wahl zu Papst Pius II. (Abbildung: Wikimedia Commons)

Langeweile und ein ganz besonderes Glas

Doch wieso erfreut sich das Zutrinken zu dieser Zeit einer so großen Beliebtheit? Eine wichtige Veränderung der Tischsitten ist von grundlegender Bedeutung: In den vorherigen Jahrhunderten kreist ein einzelner Becher reihum zwischen den Teilnehmern der höfischen Tafel. Leert einer der Speisenden den Becher komplett, so zieht er dadurch höchstens den Zorn seiner Tischnachbarn auf sich – und muss für Nachschub sorgen. Im 15. Jahrhundert erhält dann jeder Teilnehmer ein eigenes Trinkgefäß, das jedoch wegen seines spitzen Fußes nicht auf dem Tisch abgestellt werden kann. So ist man gleich doppelt zum Austrinken gezwungen: Durch Glasform und Tischgenossen. Einen weiteren Aspekt sollte man nicht unterschätzen: Im Spätmittelalter bilden sich immer mehr feste Residenzen – und dort kann das adelige Leben schnell langweilig werden. Das maßlose Trinken ist so einerseits eine Reaktion auf die Langeweile und andererseits auch eine Möglichkeit, um sich beim Trinkgelage Ansehen außerhalb der offiziellen höfischen Rangordnung zu verschaffen. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622–1676) schildert in seinem „Simplicissimus“, wie bei einem solchen Gelage die Teilnehmer sich gegenseitig dazu auffordern und beschwören „bei großer Herren und sonst lieber Freund oder bei seiner Liebsten Gesundheit, den Wein maßweis in sich zu schütten, worüber manchem die Augen übergingen und der Angstschweiß ausbrach; doch mußte es gesoffen sein.“

Das Imperium schlägt zurück: Verbote des Zutrinkens

Nicht alle wollen sich jedoch diesem Zwang unterwerfen. Im Jahr 1547 lässt sich der Nürnberger Patrizier Georg Toppler sogar allen Ernstes vom Papst ein Privileg ausstellen: Niemand dürfe Toppler zum Trinken nötigen, heißt es in dem Dokument aus Rom. Auch die Obrigkeit versucht die Sitte des Zutrinkens einzudämmen: Auf dem Wormser Reichstag von 1495 wird erstmals das Zutrinken und das damit verbundene Exen von alkoholischen Getränken verboten. Wie wenig erfolgreich dieses Verbot jedoch ist, zeigt sich in den folgenden Jahren: Praktisch jeder Reichstag spricht ein neues Verbot aus – doch bewirken die offenbar allesamt wenig. Den Schöpfern solcher Zutrink-Verbote geht es dabei nicht um gesundheitliche und medizinische Bedenken. Vielmehr sorgen sie sich, dass Gott auf die neue Sünde des Zutrinkens mit der Bestrafung aller Menschen reagieren könnte. Die Syphilis, die in dieser Zeit zum ersten Mal auftritt, wird von besorgten Geistlichen sofort als eine solche Strafe Gottes gedeutet.

Trinkgelage im Mittelalter wurden mit Syphilis bestraft
Das Christuskind straft die Menschheit mit Syhilis - weil die Adeligen es mit der Sitte des Zutrinkens übertreiben?
(Joseph Grünpeck, Holzschnitt, 1496, Abbildung: Wikimedia Commons)

Der Henker und die Zähne der Pferdehändler

Die Gesetze fordern im 15. und 16. Jahrhundert drastische Strafen für das verbotene Zutrinken. Wer dabei erwischt wird, landet entweder am Pranger oder im Narrenhäuslein, einem Käfig auf dem Marktplatz. Von einer besonders harten Bestrafung wissen wir aus Regensburg: Dort hat der Rat im Jahr 1542 ein Gesetz gegen das Zutrinken erlassen. Doch fremde Pferdehändler, die gerade in Regensburg einkehren, halten sich nicht daran und fordern sich gegenseitig fleißig zum Trinken auf. Die Strafe folgt sofort: Die Pferdehändler werden an den Pranger gestellt und der Henker reißt jedem von ihnen einen Zahn aus!

Kampf gegen das mittelalterliche Trinken: Gemäßigt im Verein

Im Laufe des 15. Jahrhunderts entstehen sogenannte „Mäßigungsvereine“: Das sind Vereinigungen von Männern, die sich einer Mäßigung beim Trinken unterwerfen wollen. Das versichern sich die Mitglieder gegenseitig gleich noch mit einem Gelübde. Unter den Mitgliedern sind so prominente Köpfe wie zum Beispiel Kaiser Maximilian und Landgraf Philipp von Hessen. Doch die Befürworter der Mäßigung kennen die Grenzen ihrer Bemühungen: Als in Heidelberg 1524 hochrangige Adelige versprechen, sich nicht am Zutrinken zu beteiligen, werden die Höfe und Residenzen in Norddeutschland explizit ausgenommen. Denn, so weiß man, dort könne und dürfe man sich dem Zutrinken ohnehin nicht verweigern.

Trinkgelage und die Sitte des Zutrinkens waren Rituale im Mittelalter
Obwohl dieser "fröhliche Trinker" aus dem 17. Jahrhundert dem Zutrinken bestimmt nicht abgeneigt war, kann er sein Glas, den sogenannten Berkemeyer, auch abstellen. Es gab also keinen Zwang mehr, das Trinkglas ständig am Tisch kreisen zu lassen.(Frans Hals, A Militiaman Holding a Berkemeyer, Known as the ‘Merry Drinker’, circa 1630, Reijksmuseum)

Trinken und Essen: Der feine neue Stil im 18. Jahrhundert

Erst ab etwa 1700 findet die Sitte des Zutrinkens dann ein Ende. Jetzt dominieren in der höfischen Kultur neue, feinere Formen: Kaffee, Tee und Schokolade – alles serviert auf edlem Porzellan. Für das raue Zutrinken ist da kein Platz mehr. Und so stellt ein Reisender 1731 erleichtert fest, dass „die abscheulichen Willkommenshumpen und das viel Gesöff … nun in Deutschland sehr abgeschafft“ seien.

Mittelalter oder Frühe Neuzeit: Trinkgelage und Zutrinken ist beliebt
Dass es auch im 18 Jahrhundert nicht immer nur gesittet zuging zeigt dieses Bild eines unbekannten englischen Malers aus dem Jahr 1732. (Abbildung: Yale Center for British Art)

Literatur zur Sitte des Zutrinkens und dem Trinkgelage im Mittelalter

Kohler, Alfred: Wohnen und Essen auf den Reichstagen des 16. Jahrhunderts. In: Kohler, Alfred/Lutz, Heinrich (Hg.): Alltag im 16. Jahrhundert. Studien zu Lebensformen in mitteleuropäischen Städten, 1987
Krücke, Carl: Deutsche Mäßigkeitsbestrebungen und -vereine im Reformationszeitalter, AKG 7 (1909), S. 13-30.
Lutz, Elmar: Trinken und Zutrinken in der Rechtsgeschichte. In: Ebel, Friedrich (Hg.): Ferdinandina. Festschrift Ferdinand Elsener, ²1973, S. 56-73.
Voigt, Klaus: Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca bis Andrea de‘ Franceschi (1333–1492), Stuttgart 1973.

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